Universität Bielefeld Technische Fakultät - AG Wissensbasierte Systeme

Agenten-Systeme als operationales Modellierungsmittel für komplexe Systeme
oder: Warum ich Agenten-Systeme spannend finde

Ipke Wachsmuth

Technische Fakultät
Universität Bielefeld

ipke@techfak.uni-bielefeld.de

Aus der Perspektive der Künstlichen Intelligenz befaßt sich der Vortrag mit der Frage: Wie könnten informatische Modellierungsansätze, hier im besonderen Agentensysteme, "Wege ins Hirn" eröffnen, d.h. zum Verständnis der den Funktionen des Hirns zugrundeliegenden Wirkungsmechanismen beitragen?

In den Modellbildungen der Künstlichen Intelligenz kommt das Hirn - oder auch nur Teile davon - nicht explizit vor, allenfalls implizit dadurch, daß Annahmen über bestimmte seiner Funktionen (wie Gedächtnis etc.) und deren Wechselwirkungen gemacht werden. Als grundsätzlicher Standpunkt wird davon ausgegangen, daß sich auch allein aus dem Wechselspiel von Funktionen übergeordnete Funktionalitäten des Hirns rekonstruieren lassen, ohne daß die Art und Weise der Funktionserbringung durch organische Wirkungsträger in vollem Umfang erschlossen wird, ähnlich wie man z.B. das Funktionsprinzip einer Uhr unabhängig von seiner Erbringung durch ineinandergreifende Zahnräder oder andersartige gekoppelte Wirkungsträger verstehen kann.

Für die Modellierung der Wechselwirkung von Funktionen, die dezentral und möglicherweise von verteilten Wirkungsträgern erbracht werden, sind Agentensysteme ein in einer Reihe von informatisch geprägten Disziplinen (VKI, Artificial Life...) betrachtetes Darstellungsmittel. Informatisch betrachtet sind "Agenten" aktive, addressierbare Computerprogramme, die Aktivitäten in ihrer Umgebung beobachten und initiieren können und die mit anderen Agenten kommunizieren können. Agenten sind vernetzt durch Kommunikationskanäle; sie verfügen über eine interne Funktionalität, die nach außen nicht in ihrer Erbringung, sondern nur in den Verhaltenseigenschaften an Kommunikations- Schnittstellen sichtbar wird, und ferner über die Fähigkeit zu Kooperation bzw. Wettbewerb, mit der sich unterschiedliche Formen der Wechselwirkung modellieren lassen. Je nach Art eines interessierenden Systems, sei es ein zu modellierendes oder auch ein für einen technischen Zweck entworfenes, können die einzelnen Agenten gleich sein, können sie anfangs gleich sein und Funktionen differenzieren oder können sie von Anfang an unterschiedlich sein/gemacht werden.

Für unsere Überlegungen ist es nicht wichtig, dem einzelnen Agenten, in welcher Form auch immer, "intelligente Eigenschaften" zuzuschreiben - im Gegenteil, es ist wichtig, dies nicht zu verlangen bzw. offenzuhalten. So könnte die interne Funktionalität der Agenten, die wir in unseren Projekten bauen, auf verschiedene Weise konstruiert sein: als regelbasiertes KI-Programm, in C oder C++, unter Verwendung von Fuzzy-Algorithmen oder auch Techniken künstlicher neuronaler Netze. In jedem Fall aber ist der einzelne Agent ein selbständiger Prozeß im Computer, mit einem autonomen Kontrollzentrum; und ein System von solchen Agenten realisiert eine dezentrale (multi-regionale) Informationsverarbeitung, bei welcher z.B. Ausfälle einzelner Komponenten durch Installation einer weiteren Kopie des Prozesses ausgeglichen werden können, ohne daß das Gesamtsystem "abstürzt" (Robustheit, Regenerierbarkeit).

Ein wesentlicher Gesichtspunkt bei unseren auf technische Zwecke, insbesondere auf die Entwicklung und Gestaltung komfortabler Mensch- Maschine-Schnittstellen ausgerichteten Arbeiten mit Agentensystemen ist die Möglichkeit einer kontrolliert opaken/transparenten Modellierung: Opake Agenten können durch - wiederum als Agentensystem realisierte - "Agenturen" ersetzt werden, wodurch sich u.a. adaptive Fähigkeiten transparent modellieren lassen. Ferner läßt sich durch sensorische Kopplung von Agenten in die Anwendungsumgebung situative Information auswerten, und schließlich können wir innerhalb ein und desselben Systems sowohl ereignis- wie auch zeitzyklusgetriebene Verarbeitungsmuster installieren. Dabei lassen wir uns z.Tl. auch von Erkenntnissen über Verarbeitungsprinzipien des Hirns leiten, so etwa bei der Integration unterschiedlicher Sensorinformation (Sprach- /Gesteneingabe) auf der Basis von rhythmischen Zeitzyklen. Die Übernahme von Prinzipien erfolgt dabei ohne den Anspruch einer vollständigen Imitation, so wie man in der Bionik die Natur als Vorbild für technische Systeme nimmt, ohne sie bis ins Detail zu imitieren.

Im Hinblick auf die übergeordnete Frage, wie informatische Modellierungsansätze zum Verständnis des Hirns beitragen könnten, wird argumentiert, daß Agentensysteme nicht einfach nur Software-Realisierungen von Funktionen sind, deren Realisierungsart auf Modellebene keine Rolle spielt, sondern daß - im Gegenteil - sie gerade Ansätze für eine Vision bieten, wie sich in den beteiligten Disziplinen ein Weg finden läßt, vom Einfachen zum immer Komplexeren vorzudringen. Selbst bei Anerkennung einer grundsätzlichen Theorienvielfalt lassen sich zahlreiche Gründe dafür angeben, Agenten-Systeme als vielseitiges Modellierungsmittel vorzuschlagen:

* sie sind nicht auf ein Gebiet beschränkt, sondern erlauben Beschreibungsentwürfe für staatenbildende Insekten ebenso wie für assemblies von Neuronen
* sie sind nicht auf eine Ebene beschränkt, sondern ermöglichen gerade die Betrachtung unterschiedlicher Ebenen in einem Modell und damit ebenenüberschreitende Modellierungen
* sie gestatten die transparente Modellierung von Wechselwirkungen zwischen Agenten gleicher und unterschiedlicher Ebenen - nicht nur qualitativ, sondern auch im Hinblick auf Zeitverhalten
* sie sind für bottom-up wie top-down Modellierung geeignet und erlauben (im Gegensatz zum 'general intelligent agent') gestufte funktionale Abstraktionen, bei der Assemblies von Agenten als Wirkungsträger betrachtet werden können, welche die Funktionalität der damit realisierten "Agentur" bewirken
* sie sind operational und können mithilfe des Computers als ablauffähige Modelle exploriert werden
* sie werden in zahlreichen Disziplinen bereits als Modellierungsmittel verwendet und bieten "Brückenbegriffe", welche den disziplinenübergreifenden Diskurs erleichtern, und eine maßvolle Metaphorik, welche die Anschaulichkeit fördert
* sie sind für die Modellerweiterung/-verfeinerung offen und ermöglichen eine inkrementelle Transparenz für die in komplexen Systemen aufzuspürenden Strukturen

Kloster Seeon 30-08-96


Ipke Wachsmuth, 1998-7-29